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Gedanken zur O-Antiphon des 20. Dezember. Von Archimandrit Dr. Andreas Thiermeyer
Eichstätt (kath.net) O Clavis David, et sceptrum domus Israel, qui aperis, et nemo claudit; claudis, et nemo aperit: veni, et educ vinctum de domo carceris, sedentem in tenebris et umbra mortis.
„O Schlüssel Davids und Zepter des Hauses Israel,
du öffnest, und niemand kann schließen;
du schließt, und niemand vermag zu öffnen:
komm und führe den Gefangenen aus dem Kerker,
ihn, der in Finsternis und im Schatten des Todes sitzt.“
1. Ein Schlüssel als Bild für Gott – erstaunlich konkret
Meine Lieben,
es ist ein schlichtes, alltägliches Bild, das diese Antiphon in den Mittelpunkt stellt:
einen Schlüssel.
Schlüssel sind wenig spektakulär. Man trägt sie in der Tasche, hängt sie an einen Haken, verliert sie, sucht sie. Und doch: An einem kleinen Stück Metall entscheidet sich oft sehr viel – drinnen oder draußen, frei oder eingeschlossen, Zugang oder Ausschluss.
Die Bibel nimmt dieses einfache Bild und lädt es theologisch auf:
Der „Schlüssel Davids“ ist das Zeichen der Vollmacht, Türen zu öffnen, zu schützen, zu bewahren; jemandem ist das Haus anvertraut, das Leben einer ganzen Gemeinschaft.
Die Antiphon wagt nun etwas Großes:
Sie ruft Christus selbst mit diesem Bild an:
„O Clavis David – O Schlüssel Davids“.
Damit bekennt sie:
Du, Christus, bist der, dem der Vater den Schlüssel zur Geschichte, zur Gemeinschaft mit Gott, zur Freiheit der Menschen in die Hand gelegt hat.
Du bist nicht nur Bote, nicht nur Gast im Haus – du trägst den Schlüsselbund.
2. Christus, der Schlüsselträger – und eine dienende Kirche
Die frühen Christen haben das ernst genommen. In den Schriften des Neuen Testaments und der Väter tauchen immer wieder diese „Schlüsselstellen“ auf:
• Christus, „der den Schlüssel Davids hat“ – was er öffnet, kann niemand schließen;
• Christus, „der die Schlüssel des Todes und der Unterwelt besitzt“;
• Petrus und die Apostel, denen an dieser Vollmacht Anteil gegeben wird: „Ich gebe dir die Schlüssel des Himmelreichs…“
Die Väter haben hier eine klare Linie:
1. Christus allein ist der eigentliche Schlüsselträger.
Er hat die Vollmacht, Türen zu Gott zu öffnen, Schuld zu vergeben, Menschen in die Freiheit zu führen.
2. Die Kirche – in Petrus, den Aposteln, den Bischöfen, in allen Diensten – empfängt nur Anteil an dieser Vollmacht.
Sie verwaltet fremde Schlüssel, sie trägt sie treuhänderisch.
3. Die Schlüssel sind keine magischen Instrumente, sondern Bilder für eine Verantwortung:
zu binden und zu lösen, zu lehren, zu trösten, zu vergeben, Türen nicht zu verriegeln, sondern zu öffnen. 
O Clavis David erinnert uns daran:
Bevor die Schlüssel irgendeiner Institution gehören, gehören sie Christus.
Bevor sie Insignien der Macht sind, sind sie Zeichen dienender Verantwortung.
Für uns heute kann das sehr heilsam sein:
• Es schützt uns vor Verwechslung: Kirche ist nicht der Herr, sondern Werkzeug.
• Und es stärkt unser Vertrauen: Hinter allen Brüchen, Streitigkeiten, Fehlentscheidungen bleibt einer, der den Schlüssel nicht verliert – Christus, der Herr der Kirche.
3. Kerker, Finsternis, Schatten des Todes – wofür wir den Schlüssel brauchen
Der zweite Teil der Antiphon führt uns in eine andere Bildwelt:
„…komm und führe den Gefangenen aus dem Kerker, ihn, der in Finsternis und im Schatten des Todes sitzt.“
Wir sind plötzlich nicht mehr im Palast, sondern im Gefängnis.
Nicht mehr bei Türen, die freundlichen Besuchern geöffnet werden, sondern bei Zellen, die sich von innen nicht mehr aufschließen lassen.
Die Väter sahen hier vor allem zwei Dinge:
1. Die Herabkunft Christi in das Reich des Todes:
Der Karsamstag, an dem Christus mit dem Schlüssel in der Hand hinabsteigt, um die Gefangenen zu befreien – Adam, Eva, die Gerechten des Alten Bundes, alle, die „im Schatten des Todes sitzen“.
Er stößt die Türen der Unterwelt auf, sprengt Riegel und Ketten. Der Schlüssel Davids wird zum Schlüssel der Hölle.
2. Die realen Gefängnisse der Menschen:
o Exil, politische Haft,
o Knechtschaft unter Mächten und Gewalten,
o aber auch: Sünde, Schuld, innere Verstrickungen,
o Finsternis der Depression, der Angst, der Verzweiflung.
„Haus des Gefängnisses“, „Finsternis“, „Schatten des Todes“ – das sind Worte für Situationen, in denen wir nicht mehr weiterwissen, in denen alle Türen zu sein scheinen, innen und außen.
O Clavis David ist dann kein frommes Bild mehr, sondern ein Schrei:
• für reale Gefangene in Zellen und Lagern,
• für Menschen in zerstörerischen Abhängigkeiten,
• für Kinder in Gewaltverhältnissen,
• für Frauen und Männer, die innerlich abgeschnitten sind von Sinn und Licht.
Die Antiphon lehrt uns: Adventliches Beten ist nie nur Stimmung, sondern immer auch Fürbitte für die Gefangenen – und Erinnerung an Christus, der diese Türen nicht verschlossen lassen will.
4. Schlüssel und Verantwortung – für Kirche und jede/n Einzelnen
Wenn Christus der Schlüssel Davids ist, dann ruft er uns zugleich in seine Weise des Schlüssel-Tragens hinein.
Schlüssel bedeuten:
• Zugang ermöglichen – oder verwehren,
• Aufschließen – oder verriegeln,
• Willkommen heißen – oder ausgrenzen.
In der Kirche heißt das konkret:
• Wie gehen wir mit Menschen um, die „draußen“ stehen – an den Rändern, in unklaren Situationen, mit gebrochenen Lebensgeschichten?
• Sind wir Gemeinschaft der geöffneten Türen – oder verstärken wir noch das Gefühl des Eingesperrtseins?
Im persönlichen Leben:
• Welche Türen halte ich zu? Vielleicht aus Angst, aus Verletzung, aus Gewohnheit?
• Wo bräuchte ich selbst jemanden, der einen Schlüssel hat, den ich nicht besitze – für eine alte Wunde, eine tiefe Schuld, eine verhärtete Beziehung?
• Wo lasse ich nicht mehr an mich heran, was doch eigentlich erlöst werden möchte?
O Clavis David kann so zu einem sehr konkreten Gebet werden:
„Herr, du Schlüssel Davids,
zeig mir die Türen, die ich selbst verschlossen halte –
vor dir, vor anderen, vor mir selbst.
Öffne, was heil werden soll.
Und bewahre, was geschützt sein muss.“
Denn auch das gehört zur Vollmacht:
Manchmal muss eine Tür auch geschlossen werden – gegen Gewalt, gegen Missbrauch, gegen Lüge.
Der Schlüssel Davids ist nicht Beliebigkeit, sondern geordnete Barmherzigkeit:
offen für den, der Leben sucht,
klar gegen das, was zerstört.
5. Geduldige Ungeduld – warten vor einer verschlossenen Tür
Advent ist die Zeit des Wartens vor Türen.
Man könnte sagen:
Die O-Antiphon zeigt eine Gemeinde, die vor einem Gefängnis steht –
wissend, dass der Schlüssel existiert,
wissend, dass der Schlüsselträger unterwegs ist,
und doch: noch ist die Tür zu.
Das ist unsere Situation:
• Es gibt Menschen, die bleiben krank, obwohl wir um Heilung beten;
• Ungerechtigkeit bleibt bestehen, obwohl wir uns einsetzen;
• Strukturen der Gewalt verändern sich quälend langsam;
• innere Gefängnisse öffnen sich nicht von heute auf morgen.
O Clavis David lehrt eine geduldige Ungeduld:
• Sie ruft: „Komm – und führe den Gefangenen heraus!“
• Sie weiß: Der Schlüssel ist in guten Händen.
• Sie hält aber dem Herrn zugleich sein eigenes Versprechen hin: Du bist doch der, der öffnet und niemand schließt – tu es!
Es ist keine kleine geistliche Übung, in dieser Haltung zu bleiben:
nicht zu resignieren, aber auch nicht in Aktivismus zu flüchten,
sondern vor der verschlossenen Tür auszuharren – im Vertrauen, dass er kommt.
6. Gebet: Den Schlüssel übergeben
Zum Schluss können wir diese Antiphon in ein persönliches und gemeinsames Gebet übersetzen:
O Schlüssel Davids,
du, dem der Vater die Türen der Geschichte anvertraut hat,
du Herr der Kirche, du Licht für die, die im Schatten des Todes sitzen:
sieh auf alle, die in wirklichen Gefängnissen sind –
in Zellen, Lagern, Lagern der Armut,
in Käfigen der Angst, der Schuld, der Scham.
Geh zu ihnen hinab mit deinem Schlüssel.
Brich Türen und Riegel, die wir nicht zu öffnen vermögen.
Spreng Ketten, die zu schwer geworden sind.
Und sieh auf die verschlossenen Räume in uns selbst:
auf das, was wir eingeschlossen haben,
auf Wunden, die wir verriegelt haben,
auf Menschen, denen wir innerlich die Tür zugemacht haben.
Komm, du Schlüssel Davids,
öffne, was dem Leben dienen kann,
schließe, was zerstört,
und lehre uns, als Kirche und als Einzelne
Schlüsselträger in deinem Sinn zu sein –
nicht zur Abschottung, sondern zur Öffnung.
Wer „O Clavis David“ betet, legt den Schlüssel aus der eigenen Hand in die seine:
Er vertraut Christus die Türen des eigenen Herzens an,
die Türen der Kirche,
die Türen dieser Welt –
und bittet:
Komm, Schlüssel Davids,
führe die Gefangenen heraus,
zünde Licht an in unserer Finsternis.
Archimandrit Dr. Andreas-Abraham Thiermeyer ist der Gründungsrektor des Collegium Orientale in Eichstätt. Er ist Theologe mit Schwerpunkt auf ökumenischer Theologie, ostkirchlicher Ekklesiologie und ostkirchlicher Liturgiewissenschaft. Er studierte in Eichstätt, Jerusalem und Rom, war in verschiedenen Dialogkommissionen tätig. Er veröffentlicht zu Fragen der Ökumene, des Frühen Mönchtums, der Liturgie der Ostkirchen und der ostkirchlichen Spiritualität. Weitere kath.net-Beiträge von ihm: siehe Link.
Symbolbild (c) Pater Andreas Fritsch FSO
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